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Strafvollzug zwischen Gesetzestheorie und Praxis - Beispielfall eines "Lebenslänglichen"

Aufgabe des Strafvollzuges, so steht es in § 2 StrVollzG (=Strafvollzugsgesetz), ist es, den Gefangenen zu befähigen, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen (=Vollzugsziel). Die Haftanstalt, respektive deren Personal, hat die Bereitschaft des Gefangenen an der Gestaltung seiner Behandlung und an der Erreichung des Vollzugsziels mitzuwirken, wie es in § 4 StrVollzG heißt, "zu wecken und zu fördern".

Im Folgenden soll anhand eines Einzelfalles aus der Justizvollzugsanstalt Bruchsal die Diskrepanz zwischen der eingangs zitierten Theorie des Gesetzes und der Vollzugsrealität aufgezeigt werden.

Der Gefangene X., 68 Jahre alt, sitzt seit 42 Jahren (dies ist kein Schreibfehler, man lasse sich die Zahl der Jahre auf der Zunge zergehen) wegen Straßenraubes und zweifachen Mordes ununterbrochen in Haft. Manchem mag der Fall des ebenfalls in Bruchsal inhaftierten P. in Erinnerung sein, er sitzt ähnlich lange. Mitunter liest man über ihn in der taz oder anderen Zeitungen. Auch das Fernsehen widmete ihm erst vor einigen Monaten ein Feature. Aber bei dem hier vorgestellten Fall X. handelt es sich nicht um P.

1963 verurteilte das Landgericht Berlin X. zu lebenslanger Freiheitsstrafe, eine besondere Schuldschwere ist nicht festgestellt. Was heißt dies? Stellt die Gerichtsbarkeit eine "besondere Schwere der Schuld" fest, schließt dies eine Freilassung nach 15 Jahren Haft aus. Im Umkehrschluss bedeutet dies: Liegt keine Schuldschwere im Sinne des Gesetzes vor, ist der Gefangene, sofern von ihm keine neuen schweren Straftaten zu erwarten sind, zu entlassen!

Bis 1989 saß X. in der JVA Berlin ein; da es dort einige Schwierigkeiten mit dem Personal gab, wurde er nach Bruchsal verlegt. Anlässlich der jährlich stattfindenden Fortschreibung des Vollzugsplans (darin sollten eigentlich die erforderlichen Behandlungs-, Therapie-, Hilfsmaßnahmen aufgeführt sein, die der Gefangene bedarf, um das "Vollzugsziel" zu erreichen) im April 2004 wurde dem Gefangenen X. lapidar beschieden, dass seine von ihm gewünschte (Rück-) Verlegung nach Berlin nicht erfolge und da er sonst nichts begehrt habe, bleibe er ohne Lockerungen im geschlossenen Vollzug.

Diesmal nahm X. allen Mut zusammen und suchte Hilfe beim zuständigen Landgericht. Er beanstandete die doch allzu floskelhafte und oberflächliche Behandlung im Rahmen der Vollzugsplankonferenz und die Verweigerung jeglicher Vollzugslockerungen. Ein erst seit einigen Monaten an der Strafvollstreckungskammer Karlsruhe tätiger, augenscheinlich mit dem Gesetz und einschlägiger Rechtssprechung nicht vertrauter oder nicht daran interessierter Richter, fertigte den Insassen 10 Wochen später per Beschluss ebenso floskelhaft ab, freilich nicht ohne noch dem Gefangenen ein paar warme mahnende Worte mit auf den Weg zu geben. Den Antrag von Herrn X. wies er als unbegründet ab.

Für diesen Richter war es unerheblich, dass die letzte psychiatrische Begutachtung von 1993 datierte, dass Herr X. zwischenzeitlich das Augenlicht auf einem Auge buchstäblich verlor (er trägt ein Glasauge), zwei Krebsoperationen hinter sich hatte, und mit 68 Jahren nicht mehr der Jüngste ist.

Das StrVollzG sieht die Möglichkeit - unter engen Voraussetzungen - vor, die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer mit Rechtsbeschwerde anzugreifen. Dann befasst sich ein Strafsenat, besetzt mit 3 RichterInnen eines Oberlandesgerichts, mit dem Fall. Gänzlich ohne anwaltliche Hilfe ein schwieriges Unterfangen, aber im Fall von Herrn X. Anfang Februar 2005 von Erfolg gekrönt!

In deutlichen Worten äußerte das OLG Karlsruhe sein Unverständnis über den "Vollzugsplan" von 2004 sowie die Entscheidung des Richters. Beides wurde aufgehoben und der JVA wurde Frist bis Ende März gesetzt, einen neuen und vor allem gesetzeskonformen Vollzugsplan aufzustellen (Beschluss vom 9. Februar 2005, Az. 1 Ws 330/04). Was für Herrn X. aber viel wichtiger ist, weil es nach Jahrzehnten der Verwahrung einen Lichtblick bedeutet: Völlig überraschend machte der Senat von der sonst selten genutzten Möglichkeit Gebrauch, die Anstalt unmittelbar zu verpflichten, ab sofort Herrn X. mindestens sechs Mal pro Jahr jeweils wenigstens 6 Stunden auszuführen (d.h. unter Begleitung von zwei Vollzugsbeamten darf er die JVA für diese Stunden verlassen). Es sei nämlich, so der Senat, zur Erhaltung eines Bezuges des Gefangenen zur Umwelt außerhalb des Vollzuges, mithin seiner Lebenstüchtigkeit, unerlässlich, dass ihm diese Lockerungen ab sofort gewährt würden. Das Gericht schloss aus, dass der durch Operationen, Verlust eines Auges und fortgeschrittenen Alters geschwächte Herr X., den kampfsportgestählten, in Saft und Kraft stehenden Wärtern bei den Ausführungen davon springen könnte.

Manch einer mag einwenden, Herr X. habe seine Situation selbst verschuldet und durch zweifachen Mord lebenslange Schuld auf sich geladen; aber auch wenn ich kein Christ bin, so würde mir doch das Jesus-Wort: "Wer von Euch ohne Schuld ist, der werfe den ersten Stein" (Johannesevangelium Kapitel 8, Vers 7) einfallen. Herr X. büßt seit 42 Jahren, Stunde für Stunde, Tag für Tag, Jahr um Jahr!

Nach bisherigen Erfahrungen mit dem Gefängnis und der ausgiebigen Lektüre einschlägiger Gerichtsbeschlüsse, steht nicht zu erwarten, dass die die Anstalt die mahnenden Worte des OLG zu Herzen nimmt und durch ein umfassendes, abgestuftes Behandlungsprogramm Herrn X. eine Entlassungschance in nächster Zukunft eröffnet. In einem vergleichbaren Fall aus der JVA Freiburg riss dem selben Senat vor wenigen Jahren die sprichwörtliche Hutschnur, und es ordnete selbst ein umfassendes Lockerungsprogramm an, verpflichtete den Anstaltsleiter expressis verbis wann dem dortigen Insassen Ausführungen, danach Ausgänge in Begleitung
einer Privatperson, Ausgänge alleine, sowie Urlaub zu gewähren seien.

Gesetzestheorie und Alltag sind, dies zeigt auch der Fall von Herrn X, Lichtjahre voneinander entfernt! Und seine Situation ist leider kein Einzelfall....




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last modified 23.11.2017 | webmaster