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Psychische Krankheit, Suizid und Knast

Seelische, bzw. psychische Störungen sind nicht nur außerhalb der Gefängnismauern immer noch weitgehend tabuisiert. Wer ein gebrochenes Bein in Gips trägt, wird von seinem Umfeld bedauert. Wer an einer gebrochenen Seele leidet, dem oder der ist die Ausgrenzung ziemlich gewiss.
So gibt es im politischen Kontext aktuell den Versuch, die Repression auf psychischer Ebene (z.B. traumatisierende Folgen von Polizeigewalt) zu thematisieren und in das Bewusstsein zu rufen (http://www.outofaction.net). Aber auch wer Kontakt zu und mit Gefangenen hat, ist vielleicht interessiert, etwas über die psychische Verfasstheit von Inhaftierten zu erfahren.

In einer kurzen Einleitung (A.) möchte ich beschreiben, was wir unter psychischen Störungen und Psychopathologie verstehen, um dann über eine Studie zu referieren (B.), welche die Verteilung psychischer Störungen im (deutschen) Strafvollzug untersuchte. Daran schließt sich eine Übersicht (C.) an, in der auf Suizide im Gefängnis eingegangen werden soll, um dann mit einem Resümee (D.) zu schließen.

A. Psychische Störungen u.a.

Eine der verbreitetsten Definitionen des Begriffs „Persönlichkeitsstörung“ beschreibt diese als tief verwurzelte, anhaltende Verhaltensmuster, die sich in starren Reaktionen auf unterschiedliche persönliche und soziale Lebenslagen zeigen; wobei man gegenüber der Mehrheit der Bevölkerung deutliche Abweichungen im Wahrnehmen, Denken, Fühlen und in Beziehungen zu anderen feststellen könne (vgl. ICD-10, dem Klassifikationssystem der WHO). Die American Psychiatric Association spricht nur dann von einer Persönlichkeitsstörung, wenn Persönlichkeitszüge unflexibel und wenig angepasst sind und die Leistungsfähigkeit wesentlich beeinträchtigen oder zu subjektiven Beschwerden führen (vgl. DSM-IV). Bestimmendes Merkmal laut DSM-IV sei ein andauerndes Muster inneren Erlebens und Verhaltens, das sehr deutlich von den allgemeinen Erwartungen des jeweiligen kulturellen Umfeldes an solche Erlebens- und Verhaltensweisen abweiche.

Zur Tabuisierung psychischer Störungen (in weitem Sinne) mag sicher beigetragen haben, dass sie von Anfang an eng mit „Irrenhäusern und Zuchthäusern“ verknüpft wurden. Im 18. Jahrhundert trugen die Überfüllung der Zuchthäuser und Kritik einiger Mediziner zu einem Diskussionsprozess bei, wie mit Menschen zu verfahren sei, welche nicht eindeutig geisteskranke „Irre“ waren (so der damalige Sprachgebrauch), sondern sich zwar abnormal verhielten, bei denen jedoch nicht eindeutig bestimmbar war, ob ihnen Fürsorge zuteil werden sollte, oder ob man sie einer Strafe im Zuchthaus zuführen sollte.
Über Jahrzehnte, aber auch dann im 19. und 20. Jahrhundert wurden psychiatrische Störungsbilder mit Kriminalität verbunden und gleichgesetzt, bzw. mit einer „Minderwertigkeit“ assoziiert. Diese auch heute noch diffus mitschwingende Vorstellung über Menschen mit seelischen Problemen verhindert mitunter eine sachliche Auseinandersetzung. Aber wie verhält es sich nun mit psychischen Störungen bei Gefangenen?

B. Psychische Störungen bei Gefangenen

In einer 2006 vorgestellten Studie (Der Nervenarzt 2006, S. 830-841) fanden die Autoren besorgniserregende Ergebnisse. So fanden sie bei 83,5 % der Inhaftierten eine aktuelle psychische Störung der Achse I (nach DSM-IV, darunter fallen substanzbezogene Abhängigkeiten, psychotische Störungen, Angststörungen, Bulimie, etc.), und ferner bei 53,2 % mindestens eine Persönlichkeitsstörung (z.B. paranoider, narzisstischer, borderliner, antisozialer Art).
Durchgeführt wurde die Untersuchung in der JVA Bielefeld-Brackwede zwischen dem 01.05.2002 und 01.06.2003. Zum einen wurden alle inhaftierten Frauen erfasst, welche am Stichtag 01.05.2002 dort einsaßen (Anzahl: 63), sowie eine parallelisierte Gruppe männlicher Gefangener (76 von 582 männlichen Inhaftierten). Alle TeilnehmerInnen erklärten ihr Einverständnis an der Teilnahme der Studie.
Während 59,2 % der Männer alkoholabhängig waren, wurde bei den Frauen nur in 23,8 % der Fälle eine solche Abhängigkeit festgestellt; jedoch sah das Verhältnis genau umgekehrt bei der Opiatabhängigkeit aus: 60,3 % - Frauen und 31,6 % - Männer.
Angststörungen und posttraumatische Belastungsstörung wurden bei 39,7 und 31,7 % der Frauen, jedoch nur bei 17,1 bzw. 11,8 % der Männer diagnostiziert (jeweils bezogen auf 85,7 % der 63 Frauen und 81,6 % der 76 Männer, welche entsprechend diagnostiziert wurden).

Was die Persönlichkeitsstörungen betrifft, gab es ebenfalls geschlechterspezifische Unterschiede. Bei 65,1 % der Frauen, jedoch nur bei 43,4 % der Männer wurden (mindestens) eine solche Störung festgestellt. Davon wurden dann bei den Frauen 42,9 % als Borderliner, 33,3 % als paranoid und jeweils 17,5 % als zwanghaft, bzw. selbstunsicher diagnostiziert, und immerhin 30,2 % als antisozial. Bei den Männern waren es 32,9 % Antisoziale und bspw. 10,5 % mit paranoider Störung.
Die Untersucher sahen bei über 83 % einen fachspezifischen Behandlungsbedarf und konstatierten, dass diesem Bedarf nicht ansatzweise ein entsprechendes Angebot gegenüber stehe.

C. Suizide im deutschen Strafvollzug

Auch wenn der Suizid kein gefängnistypisches Phänomen darstellt (laut WHO gab es in Deutschland 2001 auf 100.000 Einwohner unter 65 Jahren 10,27 Sterbefälle durch Suizid, für Einwohner über 65 Jahren lag die Rate bei 23,30 Sterbefällen. Getrennt nach Geschlechtern begehen Männer mehr als 3mal häufiger Suizid als Frauen), wird doch immer wieder über Selbsttötungen im Gefängnis berichtet.
Im September 2005 stellte der Kriminologische Dienst im Bildungsinstitut des niedersächsischen Justizvollzugs deshalb eine Studie über sämtliche Suizide in bundesdeutschen Haftanstalten in den Jahren 2000 bis 2004 vor. Die Untersuchung zeichnet sich durch eine gewisse Detailfreudigkeit aus; so werden die Suizide auch in Beziehung gesetzt zum Wochentag des Todes (keine besondere Häufung etwa an Wochenenden, vielmehr geschahen die meisten Suizide an einem Mittwoch, erst danach folgen der Sonntag und danach die Freitage), zum Sterbemonat (keine Häufung z.b. an Weihnachten, vielmehr fanden im Dezember die wenigsten Selbsttötungen statt. Der März war der Monat mit den meisten Suiziden) oder der Jahreszeit (30 % der Suizide im Frühjahr, 23 % im Sommer, 23 % im Herbst und 24 % im Winter).
Signifikant ist die Haftzeit der Suizidenten. Immerhin 48,2 % töteten sich innerhalb der ersten drei Monate nach Inhaftierung; insgesamt fast 80 % innerhalb der ersten 12 Monate.

In 32,3 % der Fälle fand man nach dem Suizid einen Abschiedsbrief.

Auch die Suizidmethode wurde untersucht. Von den 467 durch Suizid gestorbenen Gefangenen (464 Männer, 3 Frauen), starben 405 durch Erhängen, 20 durch Schnitt (die übrigen verteilten sich auf Drogen, Medikamente, Strom u.a.).

Auf Antrag der GRÜNEN im Landtag von NRW fand am 20.08.2008 eine Expertenanhörung im Rechtsausschuss des Landtages zur Situation psychisch kranker Gefangener statt. Gefordert wurde mehr Personal, aber auch mehr Haftplätze; insgesamt bemängelten die Fachleute die aktuelle Situation in den Gefängnissen, was den Umgang mit psychisch kranken Gefangenen betrifft.

So sehr selbstverständlich eine bessere Betreuung für die Betroffenen zu wünschen wäre, kann „mehr Personal und Zellen“ nicht der Weisheit letzter Schluss sein. Zum einen ist doch zu bemerken, die Diagnose, wer an einer psychischen Störung leidet, ist keineswegs sicher, hängt sie doch (siehe oben) erheblich vom kulturellen Umfeld ab. Außerdem geht es um die Kapitalismus-immanente „Leistungsfähigkeit“ der Betroffenen: Wer nicht (mehr) leistungsfähig ist, entspricht nicht der hier vorherrschenden Norm, ist also „gestört“!?

Zu fragen wäre zum anderen, ob das innere Leiden nicht ein Spiegel ist für das Leiden der Gesamtgesellschaft.

Aber worum es meiner Ansicht nach nicht gehen kann, ist eine Loslösung der Verantwortlichkeit der Gefangenen mit psychischen Besonderheiten: Es hat auch mit Würde zu tun, dazu zu stehen, was jeder Einzelne getan hat; trotz allem sind sie eingebettet in ein soziales Umfeld, das auf sie eingewirkt hat, sie also auch dazu machte, was sie heute sind. Aber sie sind dem nicht hilflos ausgeliefert, sondern selbst Akteure in diesem System.

Eins dürfe jedoch klar sein: Strafvollzug, Gefängnis, Knast verschärft bestehende psychische Störungen und vermag zudem bei nicht so stabilen Menschen auch Störungen hervorzurufen.

Thomas Meyer-Falk, c/o JVA – Z. 3113, Schönbornstr. 32, D-76646 Bruchsal
http://www.freedom-for-thomas.de
http://www.freedomforthomas.wordpress.com




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last modified 21.11.2017 | webmaster