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Weihnachtsbotschaft eines Knastchefs – und wie ein Gefangener sie erlebt

Das nahe Weihnachtsfest öffnet auch die verstocktesten Herzen; als ich vor wenigen Tagen auf dem Weg von der Zelle in den Gefängnishof war, las ich an exponierter Stelle auf einem mit Sternchen und bunten Applikationen umrandeten Papier die „Weihnachtsbotschaft“ des HERRN! Und zwar des Herrn Thomas Müller, seines Zeichens Leiter der Justizvollzugsanstalt Bruchsal. Zuerst dachte ich, ich würde halluzinieren oder dies wäre ein Scherz (‘versteckte Kamera’). Er lies uns Gefangene wissen, ich zitiere:


„Auch wenn Sie sicherlich genügend Anlässe sehen, mit dem Vollzugssystem und dessen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern unzufrieden zu sein, möchte ich Ihnen trotzdem dafür danken, dass das zu ende gehende Jahr weitestgehend ruhig und frei von besonderen Vorkommnissen verlaufen ist. Ich weiß, dass für Sie, die Männer, die die Weihnachtsfeiertage hier in der Anstalt verbringen müssen, gerade diese Tage eine besondere Belastung darstellen. Gleichwohl möchte ich Ihnen ruhige und friedvolle Feiertage und für das neue Jahr Glück und Gesundheit wünschen. gez. MÜLLER.“


Der Volksmund sagt: „Reden ist Silber – Schweigen ist Gold.“ Daran hätte sich der Herr Müller erinnern und orientieren sollen, denn dieser Schrieb wird von vielen Gefangenen als zynisch wahrgenommen und erlebt. Dabei ist der Mann nicht einmal fern von jeglicher Einsicht, wie sein erster Satz zeigt. Wie wahr, wie wahr, viele Insassen sind unzufrieden, wütend, verbittert. Etwas mehr Introspektion (Selbstbeobachtung) wäre jedoch sicher nicht verkehrt, denn wenn man sich so die Anordnungen des Hr. Müller und seiner untergeordneten Bediensteten betrachtet, sollte er weniger uns Dank abstatten, als in seiner Heimatkirche niederknien auf der Sünderbank und 50 Ave Maria und 100 VaterUnser beten und dem HERRN über ihm danken. Reines Glück, daß 2003 ohne Aufstände verlief.

„Weitestgehend ruhig und frei von besonderen Vorkommnissen“?? Nun ja, da war ein Gefangener, der wegen einer Erkrankung starb, da war Herr B., der sich hier in seiner Zelle erhängte... Vielleicht ist sowas schon „normal“!?

Der ehemalige Staatsanwalt MÜLLER wünscht uns MÄNNERN „Glück und Gesundheit“ für das neue Jahr; angesichts der Zustände hier können wir Insassen das Glück mit Sicherheit sehr gut gebrauchen! Er sollte den Gefangenen aber lieber Freiheit wünschen, ein gesellschaftliches System, welches nicht mehr Kriminalität produziert, eine Gesellschaft, die keine Knäste mehr benützt! So aber haben wir uns bescheiden mit Glück und Gesundheit zufrieden zu geben...

Diese Weihnachtsbotschaft aus dem „Olymp der Knastleitung“, gewissermaßen von „Zeus“ selbst verfaßt, ist meiner Ansicht nach an Zynismus schwerlich zu überbieten. Außenstehende mögen dies anders sehen und denken: „Das ist doch eine nette Geste!“. Solch eine Vorstellung würde den Charakter einer Haftanstalt mit seiner totalen Kontrolle, Überwachung und Macht verkennen.




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last modified 23.11.2017 | webmaster